Zeitgenoss*in sein

It's amazing: We all come together at the same time. Because we are all here...and you're all here... and so we are all here together. (Forced Entertainment)

Was ist es, das unsere (Tanz-)Welten herstellt, zusammenhält oder trennt und unser Verhältnis zur Zeit beschreibt? An wen richten wir uns mit unseren Bewegungen, Worten und unserem Handeln? Und was macht uns überhaupt erst zu Zeitgenoss*innen?

Zeitgenossenschaft – vom Schweizer Literaturwissenschaftler Sandro Zanetti in seinem 2011 erschienen Essay ‚Poetische Zeitgenossenschaft' treffend als Deckwort bezeichnet, das verschleiere, was es zu erklären versuche – verknüpft zwei den Tanzkongress wesentlich konstituierende Elemente: Zeit und Genossenschaft. Die Zeit, unsere Zeit – also: die Gegenwart – mit ihren Merkmalen, Charakteristiken, Anforderungen und Auswüchsen ist für uns Grundlage und Grundvoraussetzung der künstlerischen, theoretischen, praktischen und wissenschaftlichen Veranstaltungen des Tanzkongress 2016. ‚In welcher Zeit leben wir?' und ‚Wie spiegelt sich unsere Zeit im Tanz?' haben wir mit einem Call for Proposals die Tanzwelt gefragt und die unterschiedlichsten Antworten zurückbekommen.

Geknüpft an diese Aufforderung zur Teilhabe ist die Frage nach der Perspektive: wer denkt und formuliert von welchem Standpunkt aus? Spricht jeder nur für sich allein? Oder gibt es etwas Verbindendes, auf das sich die unterschiedlichen Positionen beziehen? Anknüpfend an das Motiv der Gemeinschaft, die sich auf Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit zu einer Gruppe gründet, wird die Genossenschaft noch einen Schritt weiter gedacht und strebt nach einem gemeinsamen Ziel und Interesse, für das sich verschiedene Individuen temporär zusammen getan und organisiert haben.
So beschreibt der Begriff der Zeitgenossenschaft für uns nicht allein die Tatsache, dass wir als gegenwärtige Individuen zur selben Zeit leben, sondern fragt nach dem, was sie darüber hinaus verbindet oder trennt – und auf welche Weise. In Philosophie, Theologie und Pädagogik werden eine ‚prägende gemeinsame Geschichte', die ‚zeitgeschichtliche Herausforderung' oder auch die ‚Verantwortung, sich der Zeit zur stellen' als konstituierend für die Zeitgenossenschaft beschrieben. Auch der Tanz, sofern er als zeitgenössisch verstanden wird, ist eine Kunstform, in der sich eine Vielzahl an Zeitgenoss*innen sowohl der eigenen Zeit als auch ihrer Verantwortung gegenüber dieser Zeit stellen.

Dem diesjährigen Kongress dient die Beschäftigung mit der Zeitgenossenschaft als Reibungsfläche für eine kritische Auseinandersetzung mit unseren ästhetischen, kulturellen und produktionspraktischen Referenz- und Bezugssystemen. Im Rahmen dieser Standortbestimmung (in) der eigenen Zeit, als die der Tanzkongress gedacht ist, finden sich ganz unterschiedliche Themenfelder: So stellt sich die Frage nach verschiedenen Modi der Gemeinschaftsbildung, nach Formen des kollektiven Handelns und Teilens innerhalb künstlerischer Arbeitsstrukturen sowie politischer, sozialer oder ästhetischer Konfliktfelder. Es wird diskutiert, welche Werte und Normen heute grundlegend für eine zeitgenössische Tanzausbildung sind und in welche hierarchischen Strukturen verschiedene kulturelle und ästhetische Haltungen und Herkünfte eingebunden sind. Die Bedeutung einer verstärkten Hinwendung zu ganzheitlichen und somatischen Praktiken wird genauso beleuchtet wie der Umgang mit den Bruchstellen der westlichen und nicht-westlichen Tanzgeschichtsschreibung, ihren Lücken und Überschreibungen.

Im Zentrum der Auseinandersetzung steht dabei ein physischer, politischer, sozialer und nicht zuletzt künstlerischer Wunsch, sich mit unseren Sinnen und unserem Handeln in Bezug zu unserer Umwelt zu setzen und den Körper in Bewegung als Seismografen unserer Zeit aufzufassen. Aus dieser Perspektive wurde auch der Themenbereich ‚Border Effects' entwickelt. Mit Blick auf aktuelle Prozesse des Umbruchs und der Neuordnung hinterfragt er, wessen Zeitgenossenschaft es eigentlich ist, die wir verhandeln und wie wir uns zu immateriellen und materiellen, alltäglichen und übergreifenden Grenzen ins Verhältnis setzen und dazu eine Haltung einnehmen können.

Die Themenfelder des Kongressprogramms werden bewusst nicht in klar voneinander abgegrenzte Bereiche gegliedert, sondern sind geflechtartig organisiert und durch verschiedene Querverbindungen miteinander verknüpft. Das Wissen, das in den Veranstaltungen generiert und geteilt werden soll, lässt sich nicht linear oder hierarchisch ordnen, sondern soll rhizomatisch in alle Richtungen wuchern.
In der praktischen Umsetzung einer derartig verflochtenen und dynamischen Kultur des Wissens in die Programmstruktur zeigt sich eine Grundvoraussetzung der Zeitgenossenschaft, die überhaupt erst durch Teilhabe verschiedener Stimmen und unterschiedlicher Perspektiven auf die eigene Zeit entstehen kann. Die Tatsache, dass sich in dieser Vielstimmigkeit Sichtweisen notwendigerweise verschieben, überlagern, verschwinden, vergrößern, verkleinern etc., offenbart das wesentliche Merkmal der Zeitgenossenschaft als Zustand höchster Aktualität: ihre unbedingte Zeitgebundenheit und Geschichtlichkeit.